Ich habe ein Blind Date mit Jil. Na gut, fast ein Blind Date. Zuvor durchstalkte ich natürlich das ganze Internet nach ihr: Bilder in schwarzem Latex und mit strengem Blick; ich sah lange rote Haare und eine Figur auf die Jayne Mansfield neidisch gewesen wäre. Ihre 1,95 m vermitteln sich auf Fotos nicht unbedingt. Ich ahne aber schon, dass Jil anders ist. Und das nicht nur aufgrund ihrer stattlichen Größe und ihres ungewöhnlichen Jobs…
Kaffeekränzchen mit (zumindest) Deutschlands größter Domina
Wir verabreden uns zum Plausch in einem angesagten Restaurant in Berlins Westen. Wer glaubt, dass eine 1,95-Frau nicht zu übersehen ist, der kennt mich noch nicht. Typisch Frau warte ich erst mal am falschen Eingang. Ein kurzes Telefonat später, steht sie dann endlich vor mir. Natürlich bin ich in High Heels auf ihre Größe vorbereitet, aber wie groß tatsächlich 1,95 m sind – das wird mir erst jetzt bewusst. Mit meinen 1,78 m Körpergröße plus 8 cm Absatz komme ich mir ziemlich winzig vor. Wie sich die Herren zu ihren Füßen erst fühlen müssen? Aber dazu später. Ich gucke also etwas irritiert nach oben. Jil schaut gar nicht so streng wie auf den unzähligen Fotos, die ich von ihr bereits gesehen hatte, nach unten.
Etwas befangen oder irritiert ob ihrer Größe fange ich auch gleich an, Jil mit Fragen zu bombardieren. Wir könnten auch in Heimatsprech reden, denn wir stammen beide gebürtig aus Sachsen. Ich zwinge mich zur Gelassenheit und folge Jil auf dem Weg zum Tisch. Ihren silbernen Trolley musste sie am Einlass abgeben. So richtig wohl ist ihr dabei nicht. Nach unserem Gespräch hat sie noch einen Termin mit einem ihrer Stammgäste. In dem Koffer sind neben diversen Latex-Outfits sämtliche Utensilien, die sie zur Session braucht. Der Koffer ist ihr Heiligtum. Mit jedem Drink kehrt mehr Entspannung ein. Jil taut auf und wird sogar ganz mädchenhaft-sympathisch. Ist das dann doch nur alles eine große Show? „Also ganz im Ernst: Wenn ich Spaß daran hätte oder gar einen Lustgewinn verspüre, andere Menschen zu quälen, dann müsste ich in Behandlung. Das ist mein Job und ich mache den gern.“
„Pervers? Das gibt es bei mir nicht.“
„Lebe lieber ungewöhnlich“ – das könnte Jil´s Motto sein. Was “normal“ ist, möchte sie nicht mehr beurteilen. Wie auch. Jeder Gast, der zu ihr kommt, empfindet sich auch irgendwo als normal. Normal mit vielleicht außergewöhnlichen Wünschen. „Die Menschen denken ja heute schon bei Analsex Oh mein Gott, ist das pervers. Ich weiß, dass das gerade mal der nächste Schritt nach Sex in der Missionarsstellung ist. Für mich gibt es kein pervers mehr,“ so die 26-Jährige. Das war auch mal anders. In ihrem Heimatdorf – einem winzigen Fleck auf der sächsischen Landkarte – gab es ganz viele Konventionen. Jeder hat den anderen kritisch beäugt und genau aufgepasst, was bei den Nachbarn passiert. Das ist zu viel für Jil. Sie kehrt dem Heimatdorf als später Teenager den Rücken und zieht nach Dresden. In der schönen Stadt an der Elbe beginnt ihre Karriere als Domina. Sie erzählt: „Ich habe so ein bisschen gemodelt und bin über einen Fotografen 2012 in ein SM-Studio gekommen. Die Chefin da war so begeistert von mir, dass ich hängen geblieben bin.“
Nicht nur die Chefin ist begeistert, auch die Kunden stehen Schlange. „Für viele Männer ist es einfach geil, so eine große Frau an ihrer Seite zu haben. Die wollen weibliche Übermacht spüren und bezahlen dafür, einfach in meiner Nähe sein zu können.“ Nähe ja, Berührung nein. So läuft das Dasein als Domina. Eine klassische Domina bietet in Abgrenzung zur Prostituierten keinen Geschlechtsverkehr – mehr noch, sie gilt als unberühr- und unnahbar. Das Verhältnis zu ihren Kunden lebt von einem Spiel aus Nähe und Distanz.
Hornhaut in der Nebenrolle
Jil hat mir eine Frage beantwortet, die mich schon lange beschäftigt: Auf was stehen denn Fußfetischisten? Hornhaut, pedikürte Füße in Riemchensandalen oder was genau? „Viele Männer mögen gepflegte Füße mit lackierten Fußnägeln, das stimmt. Und dann könnten die stundenlang Füße massieren und sich daran ergötzen.“ Hornhaut ist da also deplatziert. „Nicht ganz,“ meint Jil. „Ich hatte auch zwei oder drei Kunden, die waren regelrecht enttäuscht, dass ich so wenig Hornhaut habe. Die mochten es gern, die Hornhaut mit den Zähnen abzuknabbern.“ Einen kurzen Augenblick überlege ich, ob ich mir die nächste Pediküre spare und stattdessen meine Füße einem Fetischisten zum Abnagen zur Verfügung stelle. Der Gedanke kann allerdings nur kurz in mir keimen, denn Jil erzählt gerade vom Schlachten. „Was???? Schlachten!!!“ entfährt es mir. Ja, schlachten – oder zumindest Schlachtphantasien.
Sächsische Schlachtphantasien und eine vegetarische Domin
Es gibt wohl ein paar Liebhaber des Schlacht-Szenarios und die sind – kaum zu glauben – vorwiegend in Sachsen angesiedelt. „Das habe ich bisher in noch keinem anderen Bundesland erlebt“, meint Jil, und erzählt weiter: „In dem Dresdner SM-Studio, in dem alles begann, war im Keller ein improvisierter Schlachtraum untergebracht und natürlich auch der Schweinestall – schön mit Stroh ausgelegt und Futtertrögen drin. Besagte Liebhaber dieses Spektakels wurden mit Schweinemaske auf dem Gesicht in den Keller gebracht, da gefüttert und später – natürlich improvisiert – geschlachtet. Das war manchmal ganz lustig,“ lacht Jil. „Wenn ich den Typ aus seinem Stall herausgeholt habe, dann hat er sich an meine Beine geschmiegt und wie ein kleines Ferkel gequickt. Manchmal ist er auch auf allen Vieren abgehauen und ich musste ihn wieder einfangen. Das war alles Teil des Szenarios. Mit einem Bolzenschussgerät ohne Bolzen habe ich das kleine Schweinchen dann erlegt, mit heißem Wasser die Borsten abgeschrubbt und so weiter. Wie man das eben so macht beim Schlachten.“ Jil spricht so, als ob es das normalste der Welt ist. Als ob wir gerade über Handtaschen plauschen und nicht irgendwelche komischen Schweine-Schlacht-Phantasien besprechen. Nebenbei isst sie ihr Gemüse-Ratatouille. Jil ist Vegetarierin. Skurril – Schlachtphantasien und eine vegetarische Domina.
Zum Sadomasochismus – so SM ausgeschrieben – gehören nun mal Rollenspiele. Nicht jeder mag Schmerzen. Manch einer steht darauf, beschimpft zu werden. Wieder andere mögen es, wenn sie gefesselt sind – der Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt; die Spielrollen sind facettenreich. Namensgeber dieser Sexualpraktik waren im Übrigen der französische Schriftsteller Marquis de Sade (1740 -1814). Er empfand Befriedigung darin, andere Menschen zu quälen. So richtig zu quälen. Der Ritter Leopold von Sacher-Masoch (1836 – 1895) empfang wiederum Lust und Freude darin, sich seiner Ehefrau zu unterwerfen und ihr Sklave zu sein, selbst unter größtem Schmerz.
Vier Damen älteren Semesters sitzen am Nebentisch. Alle haben sich eine nette Fassade geschminkt und trinken mit gespitzten Lippen ihren Kaffee. Die Gespräche der vier golden Girls werden immer leiser und die Ohren in unsere Richtung immer länger. Ich kann das verstehen, denn Jil plaudert munter weiter aus ihrem reichen SM-Erfahrungsschatz. Da gibt es diesen Stammgast, nennen wir ihn einfach mal Chris. Chris ist selbstständig und viel international unterwegs. Jil begleitet ihn hin und wieder auf Geschäftsreisen. Tagsüber inspiziert sie die Stadt, abends gibt es Schelte für ihn. Erst kürzlich hat sie ihn bei einer Session irgendwo auf der Welt mit Nadeln traktiert. Der Gedanke bereitet mir nur vom Hören her schon Schmerzen, aber Schmerz ist ja irgendwie ihr Geschäft. „Bei Chris ist es so: Je geiler er ist, desto schmerzvoller darf es sein“, fügt Jil hinzu. Und dann lächelt sie dieses wissende Lächeln.
Nach 2 Stunden verabschieden wir uns voneinander. Nur zu gern möchte ich bei einer Session mal dabei sein. Jil hat es nicht grundsätzlich abgelehnt. Mal schauen. Ich werde euch auf dem Laufenden halten…